Stadtgesicht: Ein echter Franzose
Pierre Congard verliebte sich über Belfast nach Schwerin
Schwerin • Natürlich beginnt das Gespräch am flackernden Kamin mit einem Calvados, serviert in bunten Keramikstampern. Es ist 9 Uhr und Pierre Joel Congard singt mit tiefer Stimme französische Chansons, während er den Apfelschnaps eingießt. Für den 56-jährigen, vollbärtigen Bretonen ist mit der Geburt seiner Kinder das Heimweh fast weg. Schwerin ist seine Heimat geworden.
Begeistert spricht Pierre Congard von den Menschen in Mecklenburg. „Wenn man sie erstmal kennengelernt hat, ist das sehr herzlich“, sagt er. Doch bis dahin dauert es. Auf seinem Fahrrad grüßt der Franzose gern die Vorbeigehenden, hält an für ein Schwätzchen und ist in landestypischer Art höflich und zuvorkommend. „Es ist schade, dass sich die Menschen hier manchmal einfach nicht trauen, gleich aufeinander zuzugehen.
Diese Mentalität kennt er aus seiner Heimatstadt Brest nicht. Doch das Lebensgefühl, immer gern am Wasser zu sein, hat er von dort mitgebracht. Dabei führte sein Weg eher über Umwege nach Schwerin. Nach dem Abitur ging der sportbegeisterte Freizeitboxer nach Oregon bei Portland, lernt das amerikanische Englisch dabei und lässt sich von seinem Gastvater zum Ringen überreden. Er mag Kampfsportarten, vor allem aber Aikido, weil es Disziplin, Körperbeherrschung und einen wachen Geist erfordert. Er kämpft gern und musste auch schon kämpfen, aber darum geht es letztlich nicht. Pierre ist ein Freigeist. So zieht er durch die Welt und singt in Belfast, während des Auslandssemesters, mit Freunden und Musikern in einem Pub französische und irische Lieder. Dabei verliebt er sich in Annette aus Bochum, die den urigen Barden erst für einen waschechten Iren hält. Sie entscheiden sich zunächst, dass jeder seinen Ausbildungsweg gehen sollte. Der führte auch über Oldenburg, wo Annette studiert und Pierre sogar als Tellerwäscher arbeitet. Erst als sie sich beruflich entscheiden müssen, treffen sie eine Abmachung. Wer zuerst bei einem interessanten Job angenommen wird, der bestimmt den neuen Wohnort. Annette wird angenommen. Als Lehrerin in Schwerin und Pierre folgt ihr und entdeckt Schwerin auf eine ganz besondere Weise. „Die Nähe zum Wasser, die Natur, das ist phantastisch. Aber zunächst fühlte ich mich sehr allein, weil es hier kaum Landsleute gab. Ich hatte es schwer, die Menschen wirklich kennen zu lernen.“
Das ändert sich, als der stolze Bretone in der VfL Sporthalle erste Aikido-Kurse gibt. „Bis dahin war diese Kampfsportart in Schwerin kaum bekannt“, stellt er fest. „Doch die Menschen, die zu mir kamen, waren begeistert.“ Viele Kinder trainieren heute täglich im Dojo von Pierre Congard in der Lübecker Straße. Etliche feste Freundschaften sind entstanden. Als Stadtführer zeigt er Touristen in englischer und französischer Sprache „seine“ Stadt. Und auch wenn ihm das Baguette hier nicht so schmeckt wie beim Bäcker in Brest, fühlt er sich nach der Geburt seiner Tochter (23) und seinem Sohn (15) in Schwerin richtig heimisch. Zweimal im Jahr besucht er seine Familie und Freunde in der Bretagne, redet dann über seine Leidenschaft zu alten Segelschiffen, geht schwimmen im Meer an der Küste von Plouguerneau und schaut dabei auf den höchsten Leuchtturm Europas. Die Lebensqualität in Schwerin will er aber nie wieder missen. Er liebt es, dreimal die Woche zum Boxtraining mit Olympiasieger Andreas Zülow zu gehen, trifft am Großen Moor zur Weinverkostung interessante Menschen oder trainiert hart für seinen 7. Dan.
Was er sich wünscht für 2020? Dass jeder jeden Tag ausgelassen das Leben genießt und dass Menschen aufeinander zugehen und Vielfalt zulassen.
maxpress/Holger Herrmann