Mut zur Veränderung
Die Arbeit mit Menschen ist für Annika Thiel keine Floskel
Schwerin • Sie steht auf die 50er, obwohl sie selbst erst in den 20ern ist. Sie isst nahezu fleisch- und milchlos, aber kann bei Ente von Oma und Schokolade auf keinen Fall Nein sagen. Und sie arbeitet heute als glückliche Erzieherin im Hort, obwohl sie den Traum, Fotografin zu werden, einst traurig an den Nagel gehängt hat. Annika Thiel ist vielsagend – nicht nur, weil sie gerne redet – und vor allem vielfältig.
„Allein als Erzieherin habe ich ja schon verschiedene Jobs“, sagt sie lachend. „Neben der Begleitung der Kinder bin ich Bürokauffrau bei den Dokumentationen, Hausmeister in Angelegenheiten rund ums Gebäude und Krankenschwester.“ Obendrein hatte sie vor ihrer Erzieherzeit bereits eine Ausbildung als Mediengestalterin für Printmedien hingelegt. Das hat ihr Spaß gemacht, denn Kreativität gehört für Annika Thiel zum Leben. In ihrer Abschlussprüfung allerdings sagte ihr damaliger Lehrer: „Um ehrlich zu sein, sehe ich dich nicht in diesem Beruf.“ Dies war zuerst ein niederschmetternder Moment – doch er sagte das nicht, weil die junge Frau nicht gut war, denn das war sie. Er sah schlichtweg anderes, mehr Potenzial – nämlich in der Arbeit mit Menschen. „Damals war ich erschrocken. Heute denke ich manchmal, dass ich ihn anrufen sollte, um ihm zu sagen, wie recht er hatte!“, erläutert Annika Thiel sinnierend.
Die Aneinanderreihung verschiedener beruflicher Entscheidungen schließt sich zum Kreis: Direkt nach dem Abitur hatte sie Fotografin werden wollen. „Fotos fangen einen Moment für die Ewigkeit ein“, schwärmt sie. „Die alte Fotografie fasziniert mich am meisten. Heute können wir so viele Bilder hintereinander machen – da schätzt man ein einzelnes Fotos gar nicht mehr richtig wert. Wir drucken sie ja auch heute kaum noch aus. Das ist schade.“ Trotz der Liebe zur Momentaufnahme, sah Annika Thiel wegen der niedrigen Entlohnung während der Lehrzeit vom „Traum: Fotografin“ ab und und wählte die Mediengestaltung. Fotografieren allerdings blieb ein Hobby und dabei kam sie öfters mit Kindern zusammen. „Ich merkte: ,Hey, das fühlt sich richtig an‘. „Und ich hatte schon ganz früher durchaus daran gedacht, mit Kindern zu arbeiten. Allerdings habe ich mich nicht richtig getraut und mich gefragt, ob ich überhaupt eine Chance habe – mit meinen Tunneln in den Ohren, den Piercings und den Tätowierungen.“ Die Befürchtung, mit diesem Stil nicht ins Erzieherbild zu passen, war jedoch unbegründet, denn: „Schließlich habe ich mich bei der RBB Gesundheit und Soziales (GESO) beworben“, erzählt Annika Thiel. „Und das war dann genau richtig für mich.“ Seit 2019 hat sie ausgelernt und arbeitet seither erfolgreich und glücklich im Hort Heine Kids. Die Tätowierungen stellen dabei überhaupt keine Barriere dar, sondern eröffnen Wege für Gespräche über Geschmack. „Manche interessieren sich gar nicht dafür, aber viele wollen wissen, was ich da alles auf den Armen habe“, erzählt Annika Thiel und muss schmunzeln. „Und manche sagen auch ganz klar, dass sie die nicht schön finden. Das ist aber völlig ok für mich – denn sie sollen und dürfen ihre eigene Meinung dazu haben.“ Überhaupt findet die junge Erzieherin genau das so toll an der Arbeit mit Kindern: „Sie sind ehrlich und unverstellt. Davon können wir eine Menge lernen.“
Ihre Verbindung zu Menschen intensiviert Annika Thiel, indem sie nicht allein die Kinder begleitet, sondern auch Mentorin für die Auszubildenden und Praktikanten ist. „Wir tauschen uns über die Lehrinhalte aus, besprechen die Schwierigkeiten beim Lernen durch die Pandemie und manchmal freue ich mich, wenn wir auf den einen oder anderen Lehrer zu sprechen kommen, den ich noch selbst aus meiner Ausbildung kenne.“ Gerne erinnert sich die 28-Jährige daran zurück, denn das Verhältnis zu den Lehrkräften an der GESO war gut und die Zusammenarbeit mit den Mitschülern ebenso. Gemeinsam haben sie eine eigene Ausgabe des Lyrikheftes „Worttagebau“ umgesetzt – und in Anlehnung daran einen Leitfaden für Pädagogen entwickelt, damit diese wiederum Schreibprojekte mit Kindern durchführen können. Für das Layout dieses Konzeptes, das übrigens ihre Abschlussarbeit war, konnte Annika Thiel ihre Kenntnisse als Mediengestalterin einsetzen. Und ihre „eigenen“ Heine Kids im Hort haben dies inzwischen gemeinsam mit ihr ausprobiert und ebenfalls eine eigene „Worttagebau“-Ausgabe mit Gedichten und Bildern gefüllt.
Und da ist noch mehr: Zwar klingeln ihre Erzieher-Ohren nach einem lauten Hort-Tag manchmal so sehr, dass sie ihren Freund in einer normalen Unterhaltung anschreit, weil ihr Gehirn noch nicht auf normale Lautstärke umgestellt hat. Doch das Programm zum Auspowern folgt erst noch. Annika Thiel hat nämlich ebenfalls den Instructor-Schein für den Fitness-Tanz „Sh’bam“ in der Tasche und gibt regelmäßig Kurse. In 45 Minuten werden 12 Lieder durchgetanzt – die Kursleiterin mit einem Partner vornweg, die begeisterte Meute, versucht es ihr gleichzutun. „Ich mag die Kraft, die darin steckt. Alle ziehen mit, spornen einander an. Das ist ein absolut cooles Gemeinschaftserlebnis.“ Sie zwinkert vergnügt, die Augen strahlen dabei. Dann legt sie plötzlich nachdenklich den Kopf schief und muss über sich selbst lachen: „Keine Ahnung, woher ich die Power für all das nehme – ich schlafe viel“. Auf die Frage, wann genau sie denn das im Tagesverlauf unterbringt, zieht sie grinsend die Schultern hoch.
Wo ein ganzes Areal voller Action ist, braucht die 28-Jährige auch Raum für Ruhe. Den findet sie in ihrer charmanten Altbauwohnung. Schon mit Betreten des Hausflurs scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Schiefe Holzstufen führen ins Dachgeschoss und hinter der Wohnungstür verbergen sich ebenso knarrende, nachgebende Dielen. „Mein Tanzprogramm kann ich hier nicht üben“, sagt die junge Frau und zeigt, warum. Bei zu viel Bewegung neigt sich tatsächlich der eine oder andere Schrank, obwohl der Betrachter sich eher ehrfurchtsvoll vor ihm verneigen sollte. Denn es handelt sich bei allen Möbelstücken in Annika Thiels Wohnung um alte Schätzchen. Die ganze Wohnung ist im 50er-Jahre-Stil eingerichtet. „Mein eigener Opa sagt immer, dass ich doch hierher keinen einladen kann, weil es bei mir wie bei einer Oma aussieht“, sagt sie schmunzelnd. „Aber ich mag es ganz genau so.“ Wie bei einer guten Fotografie schätzt die 28-Jährige, dass die alten Dinge eine Geschichte erzählen, in ihrem Fall sogar häufig Familiengeschichte. „Das Fluschränkchen hat mein Ururopa Franz selbst gebaut. Und den Buffetschrank in der Küche musste ich meinem Opa ganz schön aus dem Kreuz leiern.“ Darin finden sich natürlich alte Gläser, zierliches Porzellan und schmuckvolle Tassen, darüber hängen Schwarzweiß-Fotografien in goldenen Rahmen – darauf unter anderem Opa Bernd und Oma Heidrun als junges Hochzeitspaar.
Die Großeltern und ihre Mutter spielen in Annika Thiels Leben ohnehin eine große Rolle. Sie bewohnen gemeinsam einen Hof in der Prignitz. „Das ist mein Zufluchtsort, wenn es mal allzu stressig wird. Ich habe gelernt, gut auf mich zu hören, damit ich mich nicht im Alltag verliere“, erzählt Annika Thiel. Dann besucht sie Trödelmärkte mit Opa und Oma und zieht sich in Stöber-Pausen in den Transporter zurück und häkelt. Oder sie zieht sich mit ihrer jungen Mutter schick an und fotografiert. Oder die Mama verhilft ihr zu einem neuen Tattoo mit Permanent Make-up, denn sie ist Kosmetikerin – übrigens nach der fünften Ausbildung. Zuerst hatte sie Textilfachfrau gelernt, danach Grafik und Design, im Anschluss Versicherungskauffrau, dann Sport und Fitnesskauffrau. „Meine Mutter ist mein größtes Vorbild. Sie hat mir immer viel Freiraum gelassen und Impulse gesetzt.“ Das gilt zum Beispiel auch für die überwiegend vegane Ernährung. „Die hat meine Mama in Bali und Thailand für sich entdeckt. Es hat ihr gut getan und mich hat es neugierig gemacht. Tatsächlich geht es mir mit der Ernährung auch besser.“ Ausnahmen gehören allerdings auch für Annika Thiel zu genussvollem Leben. An Schokolade geht kein Weg vorbei und zu Ente – nur von der Oma zubereitet – würde sie auch niemals Nein sagen. Oma und Opa unterstützen aber nicht allein bei traditionell deutscher Küche. „Meine Familie hat mich immer unterstützt, wenn ich mir etwas Neues vorgenommen habe. Wahrscheinlich wurde mir der Mut zur Veränderung mit in die Wiege gelegt“, vermutet Annika Thiel. „Mama, Oma und Opa haben mir dabei einfach immer vertraut.“
Das ist etwas, das die Erzieherin ihren Hortkindern unbedingt mit auf den Weg geben möchte: „Mut haben ist wichtig. Nichts wäre schlimmer, als Dinge nicht zu versuchen, zu denen man einen deutlichen Hang verspürt“, sagt sie. „Und ja, vielleicht fallen wir mal auf die Nase. Aber man darf sich trauen, sollte sich trauen. Und wenn etwas nicht funktioniert, dann sicherlich nur deshalb, weil sich eben eine andere Möglichkeit noch eröffnen soll.“
Janine Pleger
Am Beruf der Erzieherin mag Annika Thiel, dass sie vielseitig gefordert ist
Annika Thiel gibt Kurse im Fitness-Tanz „Sh'bam“
Auf Trödelmärkten zieht sich Annika Thiel gerne mal zur Pause in den Transporter von Opa zurück und häkelt
Mutter und Tochter sind ein super Gespann. „Mama ist mein größtes Vorbild“, sagt Annika Thiel (re.) stolz, Fotos: privat