Personalnotstand bei Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt
Massiv gestiegener Beratungsbedarf erfordert dringend mehr Ressourcen in Schwerin
Schwerin • Zwischen Aktenordnern, Excel-Tabellen, Diensttelefon und dem Bereitschaftshandy arbeitet Michaela Kohnert im Büro der AWO-Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Es ist ein normaler Montag. Auf dem Tisch neben ihr liegen die Meldungen der Polizei über Anzeigen von häuslicher Gewalt am Wochenende. Die hochprofessionelle Mitarbeiterin muss nun trotz einer geringen Datenlage entscheiden, welchen Fall sie proaktiv bearbeitet und welche Fälle gegebenenfalls liegenbleiben müssen, bei denen sich der Sachverhalt als „nicht so gravierend darstellt“. Wer soll diese Entscheidungen verantworten?
Wie in Schwerin geht es in fast allen fünf Interventionsstellen des Landes zu. Besonders schlimm ist die Situation allerdings in der Landeshauptstadt und in der Hansestadt Rostock. „So kann es nicht weitergehen“, heißt es von den Trägern der Interventionsstellen, die nun Alarm schlagen. „Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt in Schwerin hat sich mit 275 Fällen von 2006 auf 725 Fälle im vergangenen Jahr fast verdreifacht und wir erwarten in diesem Jahr einen Anstieg auf mehr als 1.000 Fälle“, sagt Axel Mielke, Geschäftsführer der AWO-Schwerin. Die Anzahl der Personalstellen blieb allerdings gleich, was zur derzeitig dramatischen Situation der Interventionsstellen geführt hat.
Erschwerend kam hinzu, dass der Gesetzgeber den Interventionsstellen ein immer breiteres Aufgabenspektrum verordnet hat, das ebenfalls mit dem vorhandenen Personal abgedeckt werden muss. „Seit 2010 beraten wir zusätzlich Betroffene von Stalking, seit 2018 gibt es sinnvolle, aber auch arbeitsintensive Fallkonferenzen zu Hochrisikofällen und seit vergangenem Jahr ist die Definition zu häuslicher Gewalt deutlich erweitert worden. So trifft dies nun auch zum Beispiel auf Gewalt zu, wenn ein Paar nicht in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebt, wie auch auf Gewalt nach Beendigung der Partnerschaft. Unsere Mitarbeiter sind mit den Landkreisen Ludwigslust-Parchim, Nordwestmecklenburg und der Landeshauptstadt Schwerin für ein riesiges Gebiet zuständig – aufsuchende Beratung ist schon länger keine Option mehr! Professionelle Beratung darf bei diesem Thema nicht auf dem Niveau eines Callcenters landen und unsere Mitarbeiter nicht in eine Entscheidungssituation einer Triage drängen“, so AWO-Bereichsleiter Steffen Marquardt. Sein Fazit lautet: „Der Gesetzgeber beauftragt uns, Betroffenen von häuslicher Gewalt und Stalking unverzüglich professionelle Hilfe anzubieten – gleichzeitig bekommen wir immer mehr Aufgaben, die mit dem verfügbaren Personal nicht zu stemmen sind.
Es gibt bei dramatisch gestiegenen Fallzahlen einen drastischen Widerspruch zwischen dem, was gesetzlich gewollt ist und politisch schließlich umgesetzt wird.“ Seit Jahren gehen die Beratungsstellen in die Bevölkerung, um die häusliche Gewalt aus der Tabu-Ecke ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. „Brich das Schweigen, Du bist nicht allein, hol Dir Hilfe!“, heißt es in den Kampagnen. Aber diese Hilfe steht leider nicht mehr allen zur Verfügung. Deshalb fordern die fünf Interventionsstellen im Land, den Mehrbedarf von jeweils mindestens 1,25 Vollzeitstellen für die Erwachsenberatung und je 0,72 Vollzeitstellen für die Kinder- und Jugendberatung in den kommenden Haushalt des Landes aufzunehmen. Rostock und Schwerin benötigen sogar zwingend zwei zusätzliche Vollzeitstellen. Dabei geht es um eine vergleichsweise überschaubare Summe von 774.800 Euro jährlich für das ganze Land.
„Wir erwarten, dass die Landespolitik die Dramatik dieser Situation erkennt, unsere Forderung mitträgt und die Summe für die dringend benötigten Personalstellen in den Haushalt des Justizministeriums einplant“, so Axel Mielke. Kommt das Geld nicht, würde sich die derzeit angespannte Situation weiter verschärfen, prophezeit Steffen Marquardt. „Wir verspielen so nicht nur das Vertrauen der Betroffenen in die Institution des Staates, sondern sorgen auch für Frust bei unseren Mitarbeiterinnen, die ihr Know-how nicht anwenden können, weil sie fast nur noch unter permanentem Zeitdruck zu Terminabsprachen und telefonischen Beratungen kommen. Das muss sich umgehend ändern!“
AWO Soziale Dienste gGmbH Westmecklenburg