Ein Ort innerer Sicherheit / Stadtgesicht Hannah Lenz
Hannah Lenz hat im Schreiben und in Schwerin ihr Zuhause gefunden
Schwerin • Sie ist Mutter von fünf Kindern und stolze Oma von sechs Enkelkindern. Sie ist 17 Mal umgezogen und hat dabei in fünf Städten und drei Dörfern gelebt. Als Logopädin behandelt sie 13 Störungsbilder und als Autorin hat sie etliche Kurzgeschichten, drei Romane und 300 Gedichte geschrieben. Letzteres allein beweist, dass Hannah Lenz trotz all dieser Zahlen eine Frau der Worte ist. Das Schreiben beschreibt sie selbst als ihren Ort der inneren Sicherheit.
Vielleicht hat die 63-Jährige ihr Leben zu großen Teilen deshalb in Tagebüchern festgehalten. Diese sind natürlich privat – ihre Memoiren allerdings sind zumindest für ihre Familie zugänglich. Zu ihrem 60. Geburtstag hat Hannah Lenz ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. „Das war ein guter Zeitpunkt“, erzählt sie. „Ich konnte auf 30 Jahre DDR und 30 Jahre nach der Wende zurückblicken.“ Das Schreiben an sich begann die leidenschaftliche Autorin aber schon viel, viel früher. Mit neun Jahren verfasste sie ein Gedicht, das sie mit schlotternden Knien in der Schule vortragen durfte. Das zarte, schüchterne Mädchen wagte sich an harten Tobak: „Ich habe das Gedicht aus Sicht eines amerikanischen Soldaten verfasst, der über die Geschehnisse im Vietnam-Krieg nachdenkt. Das war wirklich brutal – mit abgeschlagenen Köpfen und so weiter.“ Politische Themen greift Hannah Lenz auch heute noch auf, doch ihr Repertoire ist breiter gefächert. Ob über die Jahreszeiten, Gemälde, Begegnungen, Kunst und Künstler oder die Liebe – sie schreibt über das, was sie berührt. „Manchmal macht es einfach ,Huh!'“, sagt sie und legt dabei eine Hand auf ihr Brustbein, um zu verdeutlichen, wo sie diese Ergriffenheit spürt. „Und wenn dieses Gefühl kommt, dann fliegen erste Worte in den Kopf, manchmal auch ganze Verse. Und dann muss ich mich sofort hinsetzen und schreiben – sonst wäre es weg.“ Nach fünf Jahrzehnten Worte wählen, Verse schmieden und Geschichten spinnen, gelingen ihr manche Werke in einem Guss, also ohne spätere Verbesserungen. Das Konzentrat dessen, was sie ausdrücken will, ist oft direkt da. Doch das musste sie lernen – „von Herzschmerz-Schmalz auf den Punkt zu kommen“, wie sie selbst sagt. Dabei hat ihr ein literaturinteressierter Dozent geholfen, mit dem sie als Jugendliche eigentlich in ihrer Ausbildung zur Laborassistentin zu tun hatte. „Er hat gnadenlos alles Überflüssige rausgestrichen und ich habe es mit klopfendem Herzen beobachtet. Es hat zuerst weh getan, aber tatsächlich: Die Konzentration auf das Wesentliche brachte das Beste aus dem Gedicht hervor“, erzählt sie.
Als Logopädin und Autorin ist Sprache für sie das wichtigste Ausdrucksmittel und Instrument der Schönheit gleichermaßen. Während Hannah Lenz schon als Kind geschrieben hat, ließ ihr heutiger, zweiter Lehrberuf etwas auf sich warten. Erst mit 43 Jahren schulte die damals schon fünffache alleinerziehende Mutter um, nach einem erfolgreich absolvierten Feststellungs-, also Auswahlverfahren. „Ich wollte das unbedingt“, sagt sie. „Und ich habe so sehr gehofft, dass ich genommen werde.“ Wie so oft war die Schüchternheit von Hannah Lenz unbegründet. Ihre Zielstrebigkeit, ihr Talent, ihre Wirkung auf andere Menschen wurden sofort von den Entscheidern erkannt.
Die vorsichtigen Zweifel und die Überraschung darüber, dass sie gefragt ist, sind der rote Faden in ihrer eigenen Geschichte. Mit manchem hatte sie einfach nicht gerechnet. So klopfte Künstlerin Dörte Michaelis 2005 eines Tages an ihre Tür. Die Bildhauerin wollte Texte von Hannah Lenz auf die Körper dreier Figuren in Neukloster pressen. „So kam es zu meiner ersten Veröffentlichung – auf Stein”, sagt die Autorin lachend. 80 weitere Gedichte wurden beinahe ebenso unverhofft in einem Büchlein abgedruckt. „Der Strandläufer-Verlag in Stralsund bat mich einfach, sie einzureichen und ich wurde dann zum Gespräch eingeladen. Ich hatte erwartet, dass wir bestenfalls eine Auswahl treffen würden. Stattdessen nahmen sie alle Gedichte und präsentierten mir das fertige Cover. Da habe ich erstmal geheult“, erinnert sich die 63-Jährige heute lachend. Doch Hannah Lenz schafft nicht nur im kreativen Bereich. Zu Beginn der 90er-Jahre hat sie sich auch in der Pädagogik engagiert, genauer gesagt in der Waldorf-Pädagogik. „Gemeinsam mit Coco Radsack, Bettina Jäger, Dorothea Oertel, meinem damaligen Mann und vielen anderen habe ich die allererste Waldorf-Kindergartengruppe in Schwerin aufgebaut. Das war 1991 nur ein einziger angemieteter Raum“, sagt sie rückblickend. Sie ist also vielseitig, diese Frau mit der weichen Stimme und den klaren Worten. Und an allen Orten, an denen Hannah Lenz bisher lebte – Boizenburg an der Elbe, Lüneburg, Wismar, Stralsund, Runow, auf Usedom, am Saaler Bodden und immer wieder Schwerin – war sie offenbar stets zur rechten Zeit.
In die Landeshauptstadt ist sie 2014 gerne zurückgekehrt und wird bleiben. „Mit 56 Jahren habe ich mich gefragt: Wo gehöre ich eigentlich hin?“ Die Antwort darauf hat sie in ihre kleine Wohnung mitten in der Innenstadt geführt. Hier knüpfte sie an alte Kontakte an und hat jeden Abend eine ganz private Verabredung mit irgendeinem Autor – sie liest also leidenschaftlich gerne und taucht in die Geschichten- und Gedankenwelt anderer Schriftsteller ab. Und noch mehr Kulturelles beschäftigt Hannah Lenz. Sie spielte bisher drei Mal zur Sommersonnenwende Theater in Neuenkirchen bei Zarrentin und hat zum Beispiel die Rolle des „eingebildeten Kranken“ gegeben. Sie fördert junge Schreibtalente und coacht sie. Sie arbeitet von Anfang an am Lyrikheft Worttagebau mit. Und natürlich gibt sie auch ihre eigenen Werke live zum Besten, bei zahlreichen Lesungen wie Tauschen & Lauschen oder manchmal auch mit musikalischer Untermalung. Eine besondere künstlerische Zusammenarbeit ist daraus mit Herbert Weisrock entstanden. „Er macht Free Jazz. Und als ich das zum ersten Mal gehört habe, war ich sicher: Das wird nie etwas zusammen mit meinen lyrischen Texten.“ Umgekehrt dachte sich Weisrock vielleicht dasselbe, doch das gemeinsame Engagement, das Ausprobieren und einfach Machen hat sich gelohnt. „Wir sind davon ausgegangen, dass zum ersten Auftritt 2015 bei der Langen Nacht der Künste sowieso keiner kommt. Lyrik und Free Jazz – mehr Nische geht ja gar nicht, und dann noch um 22 Uhr“, erzählt Hannah Lenz. „Und dann waren 100 Leute da, es war eine ausgelassene Stimmung. Und hat sich bis heute etabliert.“ Dabei schüttelt sie lächelnd den Kopf, wie immer, wenn sie etwas ungläubig mit Blick in die Vergangenheit bewundert, was aus einer ursprünglich kleinen Idee ganz groß gewachsen ist.
maxpress/Janine Pleger
Hannah Lenz beim Theater in Neunkirchen – in der Rolle des „eingebildeten Kranken“, Foto: privat
Gemeinsam mit Jens Weisrock (l.) bringt Hannah Lenz (r.) seit 2015 ihre Gedichte zum Klingen – Free Jazz und Lyrik harmonieren hier miteinander, Foto: privat
Das Lyrikheft „Worttagebau” erhielt 2020 den Kunst- und Kulturpreis der Stiftung der Sparkasse Mecklenburg-Schwerin. Autorin Hannah Lenz (r.) unterstützt den „Worttagebau“ von Beginn an und nahm, den Preis von Kai Lorenzen (r.) entgegen, Foto: maxpress/Wziontek
Ihre erste Veröffentlichung hatte Hannah Lenz auf Stein – 2005 auf den Körpern dieser drei Figuren in Neukloster, geschaffen von Dörte Michaelis, Foto: privat
Hannah Lenz liest bei „Tauschen & Lauschen" lyrische Werke aus dem „Worttagebau” vor , Foto: maxpress
Kunst in all ihren Facetten: Bei einer Vernissage in Lanshut tanzt Rafael Zielinski zu den Texten von Hannah Lenz, hier zu „Die Zähmung des Faun”, Foto: privat